

Jean-Michel Basquiat zählt inzwischen zu den teuersten Künstlern der Welt, ein unbetiteltes Werk von ihm wurde 2017 für 110 Millionen Dollar an einen japanischen Sammler verkauft. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet Jean-Michel Basquiat jetzt die erste Retrospektive in Deutschland seit 1986. Boom for Real zeigt etwa 100 Gemälde, Zeichnungen, Notizen, Fotografien und Objekte aus privaten und öffentlichen Sammlungen. Die Schau, die gemeinsam mit dem Londoner Barbican Centre konzipiert worden ist, spürt Basquiats Entwicklung vom unbekannten Graffitikünstler und Enfant terrible der Clubszene von Downtown Manhattan bis zum Superstar der amerikanischen Kunst der Achtziger Jahre nach und illustriert seine Beziehung zu Musik, Literatur, dem Fernsehen und der Kunstgeschichte des Abendlandes.
Jean-Michel Basquiat, der karibische Wurzeln hatte, war der erste afroamerikanische Künstler, der es geschafft hatte, sich im von Weißen und von Rassismus geprägten Kunstmarkt durchzusetzen. Sein kreativer Schaffensrausch, in dem er über 1000 Gemälde und 2000 Zeichnungen produzierte, dauerte zehn Jahre, 1988 starb er mit nur 27 Jahren an einer Überdosis Heroin, jenem magischen Alter des Club 27, dem auch Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison und Amy Winehouse angehören. Seine kurze Karriere war wie eine Explosion, sein kometenhafter Aufstieg wurde getragen von Drogenkonsum und Selbstzerstörung, Jean-Michel Basquiat verglühte ebenso schnell, wie er im Olymp der Kunst angekommen war und wurde so zum Mythos der Achtziger Jahre.
Die Kuratoren der Ausstellung, Eleanor Nairne und Dieter Buchhart haben aus Basquiats Vermächtnis in jahrelanger Forschungsarbeit eine Auswahl von Werken herausgefiltert und dechiffriert, von denen viele bisher noch nie öffentlich zu sehen waren. Um den Geist der New-Wave-Szene aus den Achtziger Jahre wiederaufleben zu lassen, wurde die Ausstellung in einem Parcours mit zwölf Stationen aufgebaut, mit teilweise anthrazitfarben gestrichenen Gängen, die die Atmosphäre der Clubszene atmen. Boom for Real soll den verklärten Blick auf Basquiat als mythischen Poptitanen auf die Fakten der Realität lenken und Basquiats intellektuelle Abarbeitung an der Geschichte analytisch entschlüsseln. Der Name der Ausstellung Boom for Real verwendete Basquiat auf zweien seiner Bilder, Jimmy Best von 1981 und Untitled (Crown) von 1982, und ist ein charakteristisches Beispiel für seine kryptische Verwendung von Schlagworten. Für Jean-Michel Basquiat bedeutete Boom for Real eine Art Bezeichnung für etwas, das ihn wirklich inspirierte.

Jean-Michel Basquiat, Jimmy Best, 1981
Basquiat nahm mit seiner Technik des Samplings das Copy-and-Paste Zeitalter vorweg.
Basquiats enigmatische Kunst wurde in den letzten 30 Jahren zigfach interpretiert und dekodiert, doch einer einfachen Etikettierung entzieht sie sich bis heute. Das Label Neoexpressionismus kommt seiner Kunst am nächsten, greift aber zu kurz. Seine Bilder sind ein endloses Crossover, das Jugend- und Hochkultur, Graffiti, Textfragmente, TV-Trash, Cartoons, Verpackungsmüll und Verweise auf die Kunstgeschichte collagiert. Tags der Street Art verbinden sich mit rätselhaften Zeichenkürzeln zu einer anarchischen Enzyklopädie der Subkultur voller versteckter Abgründe. Der Betrachter droht sich im Labyrinth von Basquiats Mindmaps zu verlieren, trotz aller Lust an der Kombinatorik von Assoziationsketten scheint eine komplette Dechiffrierung seiner Bilder unmöglich. Seine Herangehensweise nimmt bereits das Copy-and-Paste Zeitalter vorweg, indem er aus den Eindrücken des Alltags, die er ungefiltert auf sich einströmen läßt, ein dichtes Netz heterogener Bezüge webt.
Diese Gedankenprotokolle in Realtime stehen dem Prinzip des automatischen Schreibens, wie es der Surrealismus propagiert hat, deutlich näher als dem Etikett des Neoexpressionismus. Bei Basquiat sind es allerdings nicht seine inneren Visionen, die er ans Tageslicht zerrt, sondern die Informationsflut der Außenwelt. Basquiat selbst sagte dazu: „Normalerweise arbeite ich vor dem Fernseher. Und ich brauche Quellenmaterial um mich herum, an dem ich mich abarbeiten kann.“ Am ehesten läßt sich diese eklektische Herangehensweise, Schnipsel aus alltäglichen Dingen bis zur Unkenntlichkeit zu durchmischen, mit der Technik des Samplings in der Musik vergleichen. Basquiats Bilder, auch die auf Leinwand, sind streng genommen keine Malerei, sondern impulsive Zeichnungen des Horror Vacui, die in ihrer flirrenden Atemlosigkeit den Rhythmus des Jazz wiedergeben, den Basquiat fanatisch liebte. Seine Zeichentechnik erinnert an die Art Brut und Kinderzeichnungen, was ihn zum Statement nötigte, auch wirklich zeichnen zu können.


Jean-Michel Basquiat, Glenn, 1984
Jean-Michel Basquiat gehörte zum Inventar der New Yorker Musikszene der Achtziger Jahre, er verkehrte regelmäßig im legendären Mudd-Club, wo Konzerte, Ausstellungen und Modenschauen stattfanden. Zu den illustren Gästen der Partyszene in Downtown Manhattan gehörten Klaus Nomi, Grace Jones, Andy Warhol und Madonna, mit der Basquiat eine kurze Affäre hatte. Weitere berühmte Locations waren das Area mit seinen Themenpartys sowie die Canal Zone, ein riesiger Loft in der Canal Street, die vom britischen Künstler Stan Peskett betrieben wurde. Die schillernden Nachtschwärmer der Downtown-Kultur bildeten ein ideales Netzwerk, um einer potentiellen Karriere in der Kreativszene auf die Sprünge zu helfen, jeder kannte jeden. Zu Basquiats Freunden, die er in Downtown Manhattan kennengelernt hatte, zählten Fab 5 Freddy, Michael Holman, Keith Haring, Debbie Harry und Glen O’Brian, der für seine Fernseh-Show TV Party bekannt war. Der Schmelztiegel der Kreativen in den Achtziger Jahren New Yorks war vergleichbar mit dem Paris der Zwanziger Jahre, in der Untergrund-Szene waren die ersten Beats des Hip-Hop zu hören, während David Bowie seine Weltkarriere startete und Graffitisprayer aus der Bronx Downtown Manhattan mit ihren Tags überzogen. Jean-Michel Basquiat war überall dabei und immer mittendrin, er legte als DJ auf, schuf Installationen für Themenpartys und entwarf Einladungen.

Jean-Michel Basquiat, Fab 5 Freddy, Futura 2000, Keith Haring, Eric Haze, LA2, Tseng Kwong Chi, Kenny Scharf und andere, Untitled (Fun Fridge), 1982

Jean-Michel Basquiat, Fab 5 Freddy, Futura 2000, Keith Haring, Eric Haze, LA2, Tseng Kwong Chi, Kenny Scharf und andere, Untitled (Vase), 1982
Downtown 81 läßt die Achtziger Jahre lebendig werden.
Das Biotop, in dem die Downtown-Kultur blühte, hatte jedoch auch seine Schattenseiten, die in Verklärung der Achtziger Jahre in der Ausstellung leider ausgeblendet werden. Das New York der Achtziger Jahre war heruntergekommen und stand kurz vor dem finanziellen Kollaps. Die Lower East Side glich eher einem Kriegsgebiet, Brände erhellten in der Nacht die Bronx, wenn Immobilienbesitzer Versicherungsgelder für ihre Abbruchhäuser einstreichen wollten. In tristen Straßenzügen klafften die Lücken abgebrochener Häuser, während in der Bowery Street im East Village sogenannte Shooting Factories wie Pilze aus dem Boden schossen, wo Drogendealer ihren Stoff in Plastikeimern vom Dach herabließen. Dem Klischee schäbiger Coolness stand die soziale Wirklichkeit gegenüber, in dessen Klima Armut, Gewaltkriminalität, Drogensucht und der allgegenwärtige Rassismus in den USA grassierten. Das Leben in New York war ein Überlebenskampf, rassistische Anfeindungen gehörten zum Alltag von Jean-Michel Basquiat.
Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Epoche bildet der von Maripol produzierte Spielfilm Downtown 81, für den Glen O’Brian das Drehbuch schrieb. Der Plot handelt von einem Tag im Leben eines verarmten Künstlers, der von Jean-Michel Basquiat gespielt wird. The Lounge Lizards sowie Kid Creole and the Coconuts lieferten den Soundtrack für den Film, in dem Debbie Harry von Blondie einen Überraschungsauftritt als Märchenprinzessin hat. Aufgrund finanzieller Probleme konnte der Film erst im Jahr 2000 veröffentlicht werden, da die Tonspur der Dialoge verschollen war, mußte Basquiats Stimme von Saul Williams synchronisiert werden. Die Leinwände, auf denen Jean-Michel Basquiat im Film malt, wurden als Requisiten erworben und gehören zu seinen ersten Gemälden überhaupt.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Basquiat – Boom for Real
Jean-Michel Basquiat wußte, daß er sich nicht auf die Märchenprinzessin verlassen konnte, um diesen Sumpf zu verlassen und groß herauszukommen. Denn dies war sein Ziel, er wollte es schaffen, um jeden Preis. Als schwarzes Einwandererkind einer puerto-ricanischen Mutter und eines haitianischen Vaters hatte er dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Entgegen der Legendenbildung vom Jungen aus der Gosse entstammte er einer Familie der Mittelschicht, als Sohn eines Steuerberaters wuchs er in einem keineswegs bildungsfernen Milieu auf. Seine Mutter nahm ihn regelmäßig mit zu Besuchen in die New Yorker Museen, er war polyglott und belesen.
Samo© – Basquiats cleveres Guerilla Marketing.
Das einschneidendste Erlebnis seiner Kindheit war ein Autounfall, als er im Alter von sieben Jahren von einem Auto angefahren wurde und infolge seiner Verletzungen wochenlang im Krankenhaus bleiben mußte. Basquiats Milz mußte entfernt werden, was in Piktogrammen von Unfällen, Ambulanzen und Organen auf seinen Bildern immer wiederkehren sollte. Um ihm zu helfen, das Erlebte zu verarbeiten, schenkte ihm seine Mutter den Bildband Gray’s Anatomy mit medizinischen Studien von Leonardo da Vinci. Das Buch fesselte ihn und wurde zu einem seiner wichtigsten Impulsgeber für seine Kunst. Traumatisiert hat Jean-Michel Basquiat auch die alltägliche Gewalt durch seinen Vater, der ihn mit Gürteln blutig schlug und ihm schließlich sogar ein Messer ins Gesäß rammte.
Nach der Messerattacke floh er im Alter von 17 Jahren von zu Hause in Brooklyn, brach die Schule ab und versuchte, sich alleine in New York durchzuschlagen. Lange Zeit hatte er keine eigene Wohnung, schlief bei Freunden oder auf dem Washington Square. Ohne künstlerische Ausbildung lebte Jean-Michel Basquiat seinen Traum von der Kunst und sog als Autodidakt alles in sich auf. Über sich selbst sagte er: „Ich habe nie eine Kunstakademie besucht, sondern ich habe nur hingeschaut.“ Dabei unterschied er nicht zwischen High und Low Culture, für ihn war jede Äußerung menschlicher Kultur würdig, Eingang in seine Bilder zu finden. Der Rassismus, dem Basquiat tagtäglich ausgesetzt war, entfachte in ihm einen Zorn, der zur inneren Triebfeder für seine Kunst und seinen Ehrgeiz wurde, die von den Weißen beherrschte Kunstwelt im Sturm zu erobern.

Jean-Michel Basquiat, Five Fish Species, 1983

Jean-Michel Basquiat, Untitled, 1982

Jean-Michel Basquiat, Untitled (Area), 1985
Und er hatte einen Plan, der die Strategie des Guerilla Marketings perfekt umsetzte und die Kunst Banksys vorwegnahm. Jean-Michel Basquiat fühlte sich zur Graffitiszene hingezogen und bewunderte ihre kunstvollen Tags, zu denen er selbst nicht imstande war. Doch mit seinem Intellekt konnte er dieses Defizit mehr als ausgleichen, die Poesie der Sprache wurde seine Waffe. Zusammen mit seinem Schulfreund Al Diaz zog er durch SoHo und sprühte ihren Tag Samo© an Hausfassaden, die sich in der Nähe von Galerien befanden. Samo© war ein Akronym für „same old shit“. Von den gängigen Graffiti unterschieden sich ihre Statements durch ihren Wortwitz und ihre philosophische Tiefe. Oft begannen sie mit „Samo© as an end to…“ und endeten mit „the police“, „all the mediocre art“, „mass mindlessness“ oder „the 9-to-5“. Oder sie gaben der Öffentlichkeit mit poetisch-hintergründigen Multiple-Choice-Fragen Rätsel auf. Samo© blieb nicht ohne Wirkung und erregte die gewünschte Aufmerksamkeit der aufstrebenden Kunstszene in SoHo und der Lower East Side. Die Saat ging auf, als die SoHo Weekly News 1978 die anonymen Künstler dazu aufrief, sich mit der Zeitung in Verbindung zu setzen. Die Zeitschrift Village Voice erwähnte daraufhin zum ersten Mal die Namen Jean und Al, die kurze Zeit später ihre Zusammenarbeit beendeten. Basquiat schrieb jetzt „Samo© is dead“ an die Hauswände, was soviel bedeutete, daß Jean-Michel Basquiat jetzt Jean-Michel Basquiat war. Er war bereit für die nächste Phase seines Eroberungsfeldzugs.
Mit selbstgebastelten Postkarten versuchte Basquiat in New York zu überleben.
Um finanziell zu überleben, entwarf und verkaufte er zusammen mit Jennifer Stein, der Schülerin und Assistentin von Stan Peskett, selbstgebastelte Postkartencollagen. Zur Vervielfältigung nutzten sie einen Farbkopierer, der erst wenige Jahre zuvor von Xerox auf den Markt gebracht worden war. Zu ihren Collagen ließen sie sich von Dingen des Alltags inspirieren, wie z.B. Werbung, Zeitungsartikeln und Straßenabfällen. Wenn sie nach einem erfolgreichen Verkaufstag 15 Dollar in der Tasche hatten, hatten sie das Gefühl, den Jackpot geknackt zu haben. Als sie durch Zufall am Restaurant WPA vorbeikamen und durch das Fenster Andy Warhol zusammen mit seinem Händler beim Lunch entdeckten, betrat Basquiat sofort das Restaurant und ging zu Andy Warhols Tisch, um ihm seine Postkarten anzubieten. Warhol erwarb tatsächlich zwei Exemplare, auf einer Postkarte standen die Worte „stupid games – bad ideas“.

Jean-Michel Basquiat, Untitled (Black), 1981

Jean-Michel Basquiat, King of the Zulus, 1984-85

Jean-Michel Basquiat, Keith Haring, 1983
Basquiats Inspirationsquellen waren genauso vielseitig wie seine Interessen. Er besaß eine umfangreiche Bibliothek mit Künstlermonographien und Ausstellungskatalogen, über 1000 Videokassetten seiner Lieblingsfilme, darunter die surrealen Filme von David Lynch oder Apocalypse Now, sowie unzählige Platten. Er interessierte sich für Renaissancekünstler wie Leonardo da Vinci und Tizian, aber auch Edouard Manet, Marcel Duchamp und Henri Matisse. Einen besonders starken Einfluß auf Basquiats Werk hatte jedoch Pablo Picasso, Guernica war eines der ersten Bilder, die ihn in seiner Kindheit nachhaltig beeindruckten hatten. Das kubistische Porträt von Dora Maar im Metropolitan Museum aus Picassos Serie weinender Frauen sollte für Basquiats Darstellung von Gesichtern wegweisend werden. Auch die Retrospektive von Cy Twombly 1979 im Whitney Museum beeindruckte Basquiat stark, Twomblys gekritzelte Strichcodes übernahm Basquiat als Füllmaterial für seine überbordenden Kompositionen.
Die künstlerische Botschaft dieses eklektizistischen Sampelns von Quellenmaterial war die Auseinandersetzung mit dem Rassismus und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, weshalb Jean-Michel Basquiat immer wieder Verweise auf die „Black Culture“ und ihre Helden einbaute. In den USA konnten Schwarze nur in den Bereichen Sport und Musik Karriere machen, alle anderen soziokulturellen Gebiete waren ihnen versperrt. Auf Olympiasieger Jesse Owens, den Boxer Jack Johnson, Baseballspieler Hank Aaron und die Jazzlegenden Louis Armstrong, Charlie Parker und Miles Davis nahm Basquiat immer wieder Bezug. Jean-Michel Basquiat war sich bewußt, daß die bildende Kunst die Domäne der Weißen war und er sich doppelt anstrengen mußte, wenn er eine Chance haben wollte, doch sein Selbstbewußtsein war groß genug, um sich selbst eine Krone aufzusetzen. Die Krone war ursprünglich ein Symbol aus der Graffitiszene, das die Sprayer ihrem Werk hinzufügten, wenn sie sich ihrer würdig fühlten. Basquiat machte die Krone zum Markenzeichen seiner Bilder und seiner Dreadlocks-Frisur.

Jean-Michel Basquiat, A Panel of Experts, 1982

Jean-Michel Basquiat, Untitled, 1983

Jean-Michel Basquiat, Self-Portrait, 1983
Ein echter Künstler war man in Downtown Manhattan nur, wenn man in einer Band spielte.
Geld, um sich Farben und Leinwand zu kaufen, hatte er nicht. Deshalb schleppte er Fensterrahmen, Holzlatten und Müll aus den Abbruchhäusern der Lower East Side an, um daraus seine Bilder zu fabrizieren. Gleichberechtigt neben der Zeichnung stand bei Basquiat das Wort. Er füllte Notizbücher mit Gedichten, Textfragmenten und Wortspielen, deren poetischer Rhythmus seine Liebe zur Musik widerspiegelte, der Begriff „Famous Negro Atheletes“ z.B. ist absichtlich falsch geschrieben, um Bedeutung und Rhythmik zu steigern. Zahlreiche Notizbuch-Einträge und Gedichte belegen in der Ausstellung in der Schirn die Bedeutung der Notizbücher für Basquiats Schaffen und seine Entwicklung zum Philosophen der Straße.
Die Schau New York/New Wave im P.S.1 brachte für Jean-Michel Basquiat den künstlerischen Durchbruch. Diego Cortez, der auch den berühmten Mudd Club mitbegründet hatte, zeigte 1600 Werke von mehr als 100 bekannten und unbekannten Künstlern, Musikern und Schriftstellern, darunter Robert Mapplethorpe, Andy Warhol, David Byrne und William Burroughs, um den Einfluß von New Wave und No Wave auf die offizielle Kultur von Downtown Manhattan zu demonstrieren. Basquiat hatte für seine Bilder einen prominenten Platz erhalten, deren Hängung in der Schirn teilweise rekonstruiert wird. In der Untergrundszene war Jean-Michel Basquiat bestens vernetzt, nun wurde er auch von Vertretern der High Culture, von Sammlern und Händlern, entdeckt.

Jean-Michel Basquiat, Rekonstruktion der Hängung im P.S.1, 1981
Ihre vibrierende Energie holte sich die New Yorker Clubszene der Achtziger Jahre aus der Musik und Drogen. Die angesagte Droge war Heroin und auch Basquiat konsumierte es regelmäßig bzw. war davon abhängig. In den Siebziger Jahren hatte sich unter Mitwirkung von Basquiats Idol Charlie Parker der Bebop entwickelt, in den Achtziger Jahren kam der Hip-Hop als damals innovativste musikalische Bewegung hinzu. Durch Fab 5 Freddy lernte Basquiat die künftigen Stars dieser Szene kennen, den Experimentalkünstler und Musiker Rammellzee sowie den Graffitikünstler Toxic. Damals gehörte es in Downtown Manhattan für jeden Künstler, egal aus welchem Genre er kam, zum guten Ton, in einer Band zu spielen. Zusammen mit seinen Freunden gründete auch Basquiat eine Band und gab ihr den Namen Gray, wohl in Anspielung auf Gray’s Anatomy, das ihn in seinen Bildern weiterhin intensiv beschäftigte. 1983 produzierten Basquiat und Rammellzee ihre einzige Single Beat Bop im frühen Rap-Stil bei Basquiats Plattenlabel Tartown. Für die Platte entwarf er das Coverdesign aus Anatomiezeichnungen und Krone.

Rammellzee vs.K-Rob, Produktion und Cover-Gestaltung Jean-Michel Basquiat, Beat Bop, 1983
Als der Ruhm kam, malte Basquiat zum Spaß in Anzügen von Armani.
Der Hype um Jean-Michel Basquiat als kommender Shootingstar der New Yorker Kunstszene begann langsam Fahrt aufzunehmen. 1981 schrieb der Kunstkritiker René Ricard im Artforum seinen berühmten Essay The Radiant Child, in dem Basquiat zum ersten Mal als Wunderkind ausführlich besprochen wurde. An Debbie Harry von Blondie verkaufte er sein erstes Bild für 200 Dollar, für einen mittellosen Künstler wie Jean-Michel Basquiat ein Vermögen. Basquiat beherrschte die Kunst der cleveren Selbstpromotion genauso gut wie das Sampeln von High und Low Culture. Die Galeristin Annina Nosei nahm ihn unter Vertrag und stellte ihm im Basement ihrer Galerie ein Atelier zur Verfügung, wo er zum ersten Mal ohne Existenzsorgen auf richtigen Leinwänden malen konnte. In einem wahren Schaffensrausch schuf er zwischen 1981 und 1982 250 Gemälde und 500 Zeichnungen, die Bilder seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie Annina Nosei waren sofort ausverkauft. Er arbeitete wie besessen, immer an mehreren Bildern gleichzeitig, zwischen denen er sich wie ein Hip-Hop-Tänzer hin- und herbewegte, während permanent der Fernseher lief. Mit New-Wave-Musik, Johann Sebastian Bach und Ravels Bolero, den er in Dauerschleife hörte, putschte er sich auf. Auf die Frage, was sein Medium sei, antwortete er: „Extragroß.“
Die gleichzeitige Produktion von Kunst, der hohe Erwartungsdruck des Kunstmarkts und die Pflege seines Netzwerks mit den anstrengenden Clubsessions forderten ihren Tribut und konnten nur mit Hilfe von Drogen bewältigt werden. In der Szene kursierte das nicht ganz ernst gemeinte Gerücht, daß Basquiat im Keller von Annina Nosei als Malsklave gefangen gehalten wurde, was aber durchaus ein Fünkchen Wahrheit enthielt. Die Frage, wie er als Künstler mit dem Ruhm umgehen sollte, beschäftigte Jean-Michel Basquiat. 1982 nahm er als jüngster Künstler überhaupt an der documenta 7 in Kassel teil. Basquiats kometenhafter Aufstieg vom unbekannten Straßenkünstler zur Nummer Eins der amerikanischen Kunstwelt dauerte nur drei Jahre. Er führte ein Leben im Zeitraffer und war sich wohl bewußt, daß ihm nicht viel Zeit für sein umfangreiches Oeuvre bleiben würde.

Jean-Michel Basquiat, King Zulu, 1986

Jean-Michel Basquiat, Helmet, 1981
Der Erfolg krempelte sein Leben völlig um, er schwamm plötzlich im Geld und wußte nicht, was er damit anfangen sollte. Ein Bankkonto hatte er nicht, er ließ sich ausschließlich in Cash bezahlen oder gleich mit Drogen. Nach seinem Durchbruch soll Basquiat täglich Drogen im Wert von 500 Dollar konsumiert haben. Auf wilden Partys wurde Kaviar gereicht, der Champagner floß in Strömen. Zum Malen trug Basquiat jetzt gerne Anzüge von Armani, die er absichtlich mit Farbe besudelte. Er war der Goldesel der amerikanischen Kunstschickeria, der den kopflastigen Minimalismus der Sechziger Jahre pulverisiert hatte. Die Sammler rissen sich um seine Bilder und die Topgaleristen New Yorks witterten gute Geschäfte.
Warhol war beeindruckt, wie schnell Basquiat malte.
Bruno Bischofsberger, der Andy Warhol weltweilt vertrat, wurde Basquiats neuer Galerist, hinzu kamen Mary Boone in New York und Larry Gagosian in Los Angeles. Bischofsberger war es, der Basquiat auch mit Andy Warhol bekannt machte. Warhol wurde für Jean-Michel Basquiat zum Freund und Mentor, während er selbst von dessen jugendlichem Elan profitierte, da sein eigener Stern in den Achtziger Jahren im Sinken begriffen war. 1982 nahm Bischofsberger Basquiat mit in Andy Warhols Atelier, um großformatige Polaroid-Aufnahmen zu machen. Nach dem Fotoshooting blieb Basquiat nicht zum Essen, sondern eilte in sein Atelier, um nach einem Doppelportait von sich und Warhol das Bild Dos Cabezas (Zwei Köpfe) zu malen. Mit einem noch tropfnassen Bild kehrte er zurück zu Bischofsberger und Warhol, der neidisch feststellen mußte: „Er ist schneller als ich.“

Jean-Michel Basquiat, Dos Cabezas, 1982
Warhol redete immer wieder auf Basquiat ein, die Drogen bleiben zu lassen, aber ohne Erfolg. Ihre Freundschaft war zugleich von produktiver Rivalität geprägt, auf Anregung von Bruno Bischofsberger malten sie zusammen und schufen rund 150 Gemeinschaftswerke. Einige dieser Werke, darunter Arm and Hammer, sind in der Ausstellung in der Schirn zu sehen. Der Höhepunkt dieser Kollaboration sollte 1985 die in der Galerie von Tony Shafrazi gezeigte Gemeinschaftsausstellung werden, die in der Marketingkampagne zum Boxkampf zwischen Warhol und Basquiat hochstilisiert worden war. Doch bei den Kritikern fiel die Ausstellung durch. Als die New York Times in ihrem Verriss Basquiat als Warhols Maskottchen bezeichnete, war Basquiat zutiefst verletzt und brach den Kontakt zu Warhol abrupt ab.

Michael Halsband, Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat, 1985, © Michael Halsband

Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol, Arm and Hammer II, 1984
Die New York Times hatte Jean-Michel Basquiats wunden Punkt getroffen, die Kritik bedeutete einen Wendepunkt in seinem Leben. Nachdem es für ihn jahrelang in atemberaubendem Tempo nur bergauf gegangen war, begann nun die tragische Phase seiner Selbstzerstörung. Er war in kürzester Zeit auf dem Olymp angekommen, hatte alles erreicht, was man als Künstler erreichen konnte, und fühlte sich leer und einsam. Freundschaften pflegte er, solange sie ihm auf seinem Weg nach oben nützlich erschienen, nun kam noch eine ausgeprägte Paranoia hinzu, da er jeden verdächtigte, nur hinter seinem Geld her zu sein. Obwohl er sich alles leisten konnte, bekam er als Schwarzer nicht einmal ein Taxi. Sein gesamtes Werk war ein Schrei nach Aufmerksamkeit, eine Form des Protests gegen die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung. Seine Selbstinszenierung als schwarzer Picasso inmitten einer von Weißen beherrschten Kunstszene entsprang multiplen persönlichen und sozialen Traumata, denen er als Afroamerikaner ausgesetzt war. In einem Interview beklagte er sich, daß Schwarze in der Kunst nie realistisch dargestellt würden. Mit seiner Hommage an die schwarzen Jazz- und Sportlegenden wollte er den Finger in die Wunde Amerikas legen.

Jean-Michel Basquiat, Untitled (Pablo Picasso), 1984
Alles, was Basquiat wollte, war Respekt.
Als er zusammen mit seinen Freunden Rammellzee und Toxic nach L.A. flog, um eine Ausstellung bei Larry Gagosian vorzubereiten, nannte sich das Trio die „Hollywood Africans“, um gegen den notorischen, bis heute existierenden Rassismus in der amerikanischen Filmindustrie Stellung zu nehmen. Basquiat, der nie als schwarzer Künstler gesehen werden wollte, traf der Maskottchen-Verriß in der New York Times bis ins Mark. Seine Überzeugung, daß die Qualität seiner Kunst und nicht seine Hautfarbe den Unterschied machte, geriet ins Wanken. Er war der Exot, der ins Territorium der Weißen eingedrungen war, und dort jetzt den Pausenclown spielen durfte. In seinem Bild Jesse wird seine Beschäftigung mit der afrikanischen Kultur und dem Jazz deutlich, indem er Bezüge zwischen den jüdischen Autoren von Superman, dem Glauben der Nazis an den Herrenmenschen und der schwarzen Sportlegende Jesse Owens, der 1936 Hitlers Olympische Spiele störte, herstellt. Die wichtigste Botschaft seiner Kunst und alles, was ihn dazu antrieb, war die Einforderung von Respekt.
Andy Warhols Versuche, mit Basquiat wieder Kontakt aufzunehmen, wurden von ihm kategorisch abgeblockt. Als Warhol 1987 starb, war Jean-Michel Basquiat am Boden zerstört, da er sich schuldig an dessen Tod fühlte. Die Abwärtsspirale, in der er sich befand, beschleunigte sich, sein Drogenkonsum wurde exzessiv. Basquiats gesamtes Werk ist ein Memento Mori, Totenschädel bilden oft das zentrale Element seiner Kompositionen. Das Vanitas-Motiv der Renaissancekünstler mischte er mit dem Voodookult, wie in Untitled von 1982, wo die boxende Figur in Anlehnung an das göttliche Geistwesen im Voodoo, Baron Samedi, mit Totenschädel auftritt. Auch auf dem Bild, das 2017 den Auktionsrekord von 110 Millionen Dollar erzielt hat, ist ein Schädel zu sehen.

Jean-Michel Basquiat, Untitled, 1982

Jean-Michel Basquiat, Leonardo da Vinci’s Greatest Hits, 1982

Jean-Michel Basquiat, Moses and the Egyptians, 1982
Das Bewußtsein um die eigene Sterblichkeit, vielleicht sogar ein latenter Todeswunsch, steigerten sich in Jean-Michel Basquiats letzten Lebensjahren. Auf dem Bild Riding with Death, einem seiner letzten Bilder, die 1988 in seiner letzten Ausstellung gezeigt wurden, ist ein Todesreiter auf einem skelettierten Pferd zu sehen. Basquiats explodierende Hintergründe sind einer monochromen Fläche gewichen, die den makabren Todesritt in den Vordergrund rückt. Auf einem anderen Bild wiederholte er immer wieder die Worte „Man dies“. Es war sein persönlicher Abschied und der der Ära von Downtown Manhattan in den Achtzigern. Die Party war zu Ende, in der Szene lichteten sich die Reihen der Kreativen mit jedem weiteren Drogentoten. Die Aids-Epidemie Ende der 1980er Jahre verstärkte die Verluste durch den Drogenkonsum noch, es war wie die Pest. Jean-Michel Basquiat, der kurz zuvor noch eine Entziehungskur gemacht hatte und vorübergehend clean war, fiel zurück in sein altes Muster. Im Sommer 1988 starb er an einer Überdosis Heroin.
Für die Museen ging der Hype um Jean-Michel Basquiat zu schnell.
Was bleibt heute von seinem Vermächtnis, außer den Rekordpreisen am Kunstmarkt, 30 Jahre nach seinem Tod? Der Aussage der Kuratoren, die Jean-Michel Basquiat zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts hochgepusht haben, um die Ausstellung Boom for Real zu bewerben, darf man getrost wiedersprechen. Er war sicher der am meisten gehypte Künstler des 20. Jahrhunderts und sein kometenhafter Aufstieg ein Beispiel par excellence, wie Künstlerkarrieren von den Akteuren des Kunstbetriebs aus Profitgier gemacht werden. Wer es sich nach Basquiats Tod leisten konnte, ein Werk von ihm zu erwerben, kaufte sich sich vor allem in den Mythos ein, der um ihn herum entstanden ist. Für die internationalen Museen ging die Entwicklung dieses Mythos viel zu rasant, war die Gier der privaten Sammler viel zu groß, so daß Jean-Michel Basquiat so gut wie in keiner öffentlichen Sammlung vertreten ist.

Jean-Michel Basquiat, Ishtar, 1983

Jean-Michel Basquiat, Jawbone of an Ass, 1982
Sein Werk spiegelt wie kein anderes den Zeitgeist der Achtziger Jahre in Downtown Manhattan wieder. Er hat wie kein anderer die Technik des Samplings, den Eklektizismus auf die Spitze getrieben. Durch die geschickte Verbindung von Wort und Bild hat er ein Bezugssystem geschaffen, das die gesamte Enzyklopädie der Menschheit in seine Bilder holt. Doch diese Versatzstücke verdichten sich nicht zu einer neuen, tiefergehenden Bedeutung, die über ihre eklektizistische Herkunft hinausweist, sondern bleiben ein oberflächlicher Informationsoverkill. Basquiat-Exegeten können sich in den endlosen enigmatischen Assoziationsketten seiner Wimmelbilder verlieren, doch Betrachtern, die nicht über das historische Insiderwisser der Achtziger Jahre verfügen, kann man nicht übelnehmen, wenn sie an der Entschlüsselung von Basquiats Bildern scheitern und darin nicht mehr als lustige Graffiti sehen.
Das jedoch macht wirklich große Kunst aus, daß sie den Betrachter unabhängig von seiner Herkunft und seiner Epoche durch ihre visuellen Botschaften packt und die Komplexität der menschlichen Existenz in den scheinbar banalsten Dingen ausdrückt. Das Werk von Jean-Michel Basquiat dagegen ist das sprudelnde Frühwerk eines Jungen auf der Suche nach Identität, das leider viel zu früh abgebrochen ist, um zu Reife und Verdichtung zu gelangen. Um die Dinge gerade zu rücken, muß man auch berücksichtigen, daß Basquiats gesamtes Werk unter dem Einfluß von Drogen, also unter irregulären Bedingungen entstanden ist, die von vielen anderen großen Künstlern abgelehnt worden sind. Hätte Jean-Michel Basquiat nicht den frühen Drogentod gewählt und sein Werk über einen längeren Zeitraum entwickeln können, wäre er vielleicht wirklich einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts geworden. Er hätte die Social-Media-Kunst des Copy-and-Paste-Zeitalters sicher um einige Facetten bereichert. Sein Leben und Werk waren jedoch eine untrennbare Einheit, die nicht länger als 27 Jahre andauern konnte. Was bleibt, ist der Mythos, der einen realistischen Blick auf sein Werk verstellt.

Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat, ca. 1982-86

Jean-Michel Basquiat, Self-Portrait, 1984
Viel bedeutender als seine Bilder ist für die Gegenwart sein Vermächtnis, das er als schwarzer Künstler inmitten einer rassistischen Gesellschaft hinterlassen hat. 1983 erschütterte der Tod von Michael Stewart die USA. Stewart war ein afroamerikanischer Graffitisprayer aus der Szene von Downtown Manhattan. Als er beim Taggen von einer weißen Polizeistreife aufgegriffen wurde, wurde er von ihnen zu Tode geprügelt. Jean-Michel Basquiat war völlig aufgelöst, als er von der schockierenden Nachricht erfuhr und sagte nur: „Es hätte ich sein können.“ 35 Jahre später beweist die #BlackLivesMatter-Bewegung, daß der Rassismus in Amerika weiterhin tief verwurzelt ist. Nach Barack Obama schlägt das häßliche Amerika mit der Fratze der alten weißen Männer jetzt zurück, die „America first“ sagen und „White America first“ meinen. Deshalb sind Künstler wie Jean-Michel Basquiat heute wichtiger denn je, denn auch Erfolg kann eine Form von Diskriminierung sein.
16.02.18 – 27.05.18 Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main