

Diorama – Erfindung einer Illusion lautet die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt über die Kulturgeschichte des Sehens. Ein Diorama berichtet von Geschichten und Lebensräumen unter Verwendung gestalterischer Mittel, um eine möglichst wirklichkeitsgetreue Illusion zu erzeugen. Was als Thema zunächst ein wenig verstaubt klingt erweist sich beim Besuch als eine der überraschendsten und erhellendsten Ausstellungen dieses Jahres. Die Schirn Kunsthalle präsentiert etwa 100 Exponate, darunter Dioramen aus dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und zeigt, daß das Diorama auch für Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts wie z.B. Marcel Duchamp, Jeff Wall und Isa Genzken noch eine wichtige Inspirationsquelle sein kann, wenn es darum geht, sich mit dem inszenierten Sehen auseinanderzusetzen und die Wechselwirkung zwischen Illusion und Wirklichkeit zu hinterfragen.
Die wörtliche Übersetzung von Diorama bedeutet „durchschauen“ oder „hindurchsehen“. Ein Diorama besteht in der Regel aus einem bühnanartigen Aufbau, in dem eine reale oder fiktive Szenerie mit historischen Figuren oder Tierarten als Protagonisten in ihrer natürlichen Umgebung dargestellt wird. Getrennt wird diese virtuelle Welt von Realraum der Ausstellung nur durch eine Glasscheibe, doch ist es das Ziel, den Besucher durch die perfekte Illusion auf die Bühne dieser künstlichen Fantasiewelt hinüberzuziehen. Alles, was heute dazu dient, den Menschen aus dem grauen Alltag herauszuholen, um ihn mit optischen Tricks in eine andere Welt zu versetzen, vom Kino bis zu Computerspielen und Virtual Reality, basiert auf der Kulturgeschichte des Sehens, die durch das Diorama begründet worden ist.
Das kuratorische Konzept der Ausstellung in der Schirn stammt von Laurent Le Bon, dem Direktor des Musée Picasso in Paris, der schon lange von diesem Thema fasziniert war und zusammen mit den Kollegen vom Palais de Tokyo in Paris und der Schirn Kunsthalle das Ausstellungsprojekt realisierte. Die Schau setzt sich mit der Geschichte des Dioramas und ihren Ursprungsformen auseinander und untersucht seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst und die Unterhaltungsindustrie. Der Prototyp des Dioramas entstand in Italien und Frankreich im 17. Jahrhundert als Objekt der Volksfrömmigkeit. In religiösen Schaubildern wurden Kreuzigungsszenen sowie das Geheimnis des Glaubens inszeniert, auch die Krippe ist daraus hervorgegangen. In der Schirn werden unter anderem auch Werke der Nonne und Wachspuppenmacherin Caterina de Julianis gezeigt, die von 1695 bis 1742 lebte.


Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Caterina de Julianis, Reuige Magdalena, 1717
Mit der Projektion von Lichteffekten auf die Leinwand nahm Daguerre das Kino vorweg.
Der Wegbereiter des Dioramas, wie es heute noch bekannt ist, war Louis Jacques Mandé Daguerre (1781 – 1851). Daguerre war eigentlich Maler und gilt als einer der Väter der Fotografie, weshalb er mit den Tricks der optischen Illusion bestens vertraut war. 1822 entwickelte er eine optisch-mechanische Schaubühne, bei der das Publikum wie in einem sich unmerklich drehenden Amphitheater saß und sich auf eine imaginäre Reise in ferne Länder begab. Daguerre erklärte, sie biete „dem Betrachter alle Mittel der Illusion.“ Auf großen semitransparenten Leinwänden wurden Geschichten gemalt, die in dem begehbaren Theater mit Lichteffekten und Bühnentechnik in Bewegung gesetzt wurden. Dadurch wurde der Bildraum erweitert und um eine völlig neue Qualität des Illusionismus bereichert.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Louis Daguerre, ca. 1830
Die neue Technik eroberte die Jahrmärkte im Sturm, zahlreiche Schausteller waren von der Weltneuheit fasziniert und und zeigten Dioramen mit beleuchteten Leinwänden, die historische Ereignisse inszenierten. Bewegt wurden sie von Automaten, Orchester sorgten für die musikalische Untermalung. Die Ausstellung in der Schirn zeigt auch die Arbeit Naguère Daguerre von Jean Paul Favand aus dem Jahr 2012, zu der zwei aufwändig restaurierte Leinwände eines mechanischen Theaters aus dem 19. Jahrhundert gehören. Lichteffekte und Donnergrollen erzählen vom Ausbruch des Vesuv in der Bucht von Neapel, heute wird die Geschichte durch digitale Technik animiert. Im 19. Jahrhundert wurden auf die Originalleinwand zum ersten Mal bewegte Bilder projiziert, weshalb diese Form des Dioramas einen Vorläufer des Kinos darstellt.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Jean Paul Favand, Naguère Daguerre, 2012
Es war das Zeitalter der Wunder, zahlreiche Erfindungen und Entdeckungen wurden gemacht, während Forschungsreisende exotische Tiere, Pflanzen und Kunstgegenstände aus fernen Ländern nach Europa brachten. Kuriositätenkabinette und Freak Shows boomten auf den Jahrmärkten und legten den Grundstein für die heutige Unterhaltungsindustrie. Die Welt wurde systematisch erschlosssen, das Wissen über sie vervielfachte sich, wurde fotografiert und dokumentiert. Der Dichter Charles Baudelaire sehnte sich in die Zeit zurück, als das Diorama noch im Dienst der Illusion stand, nachdem Mitte des 19. Jahrhunderts die Fotografie ihren weltweiten Siegeszug angetreten hatte. Baudelaire schätzte das Diorama, „deren brutale und überwältigende Magie mir eine förderliche Täuschung aufzudrängen weiß.“ Für ihn ergaben Traum und Lüge die Illusion, die der Wahrheit am nächsten stand.
Die Diorama Ausstellung in der Schirn zeigt die Anfänge des Hyperrealismus.
Doch der technologische Fortschritt ließ sich nicht aufhalten und markierte den Beginn der Wissensgesellschaft. Das sich exponentiell vermehrende Wissen über die Natur und den Menschen mußte vermittelt werden, der Betrachter in einer Schule des Sehens erzogen werden. Als die ersten Naturkundemuseen, Tempel des Wissens, entstanden, schlug zum zweiten Mal die große Stunde des Dioramas. Keine andere Präsentationsform eignete sich besser, um naturkundliches und anthropologisches Wissen anschaulich zu vermitteln. Das Diorama als Glasschaukasten sollte sowohl überwältigen als auch belehren und ist bis heute noch Standard in vielen historischen Museumssammlungen.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Erich Böttcher, Alaska-Schneeschaf
Es setzt die menschliche Kenntnis der Welt in Szene und lenkt den Blick des Betrachters auf die dargestellten Zusammenhänge, indem die Wissenschaft durch die illusionistische Wirkung des Dioramas auf die Bühne des Theaters gebracht wird. Eine der wichtigsten Formen des Dioramas wurde das sogenannte Habitatdiorama, in dem Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum in Szene gesetzt werden. Vor allem exotische Tierarten versprachen die Illusion von Abenteuer und zogen die Besucher in ihren Bann. Die Präparation von ausgestopften Tieren, die sogenannte Taxidermie, hatte im 19. Jahrhundert enorme Fortschritte gemacht, so daß es inzwischen möglich war, Tiere so lebensecht darzustellen, daß sie von lebenden Tieren nicht mehr zu unterscheiden waren. Eine neue Form der interdisziplinären Kooperation entstand, in der Künstler und Wissenschaftler zusammenarbeiteten, um zur perfekten Illusion zu gelangen.
Konnten Tiere früher nur in Gips, Holz oder Stein modelliert werden, war es jetzt möglich, die abgebalgte Haut über das Modell zu ziehen und der Tierplastik einen täuschend echten Charakter zu geben. Die Taxidermie und das dazugehörige Habitat waren zugleich die Geburtsstunde des Modellbaus und des Hyperrealismus, der eine eigenständige Kunstrichtung begründete und bis heute aktuell ist. Hier traf die Kunst der Landschaftmalerei auf das bildhauerische Handwerk des Präparators, der die ausgestopften Tiere in naturalistischen Landschaftskulissen in Szene setzte. Im Character Design der Filmindustrie spielen die Modellbaukenntnisse, die sich in der Taxidermie des 19. Jahrhunderts etabliert haben, trotz Computeranimation noch eine herausragende Rolle.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Jules Terrier, Der Kampf der Löwin mit der Gazelle, 1891
Durch das Diorama wurde das ökologische Bewusstsein geweckt.
Die lebensechten Tierpräparate sind paradoxe Objekte, einerseits repräsentieren sie keine künstlerische Idee und sind für immer erstarrt, andererseits existieren sie in ihren realen Körpern als Darstellungen ihrer eigenen Vergangenheit weiter. Zu den bedeutendsten Tierpräparatoren ihrer Zeit gehörten Rowland Ward (1848-1912), Edward Hart (1847-1928) und Carl Akeley (1864-1924). Der britische Künstler Rowland Ward, der bei seinem Vater das Handwerk der Tierpräparation erlernt hatte, revolutionierte die Kunst der Taxidermie durch sein bildhauerisches und malerisches Können. Während die Tiere früher statisch präsentiert wurden, schuf Ward spektakuläre Szenen, in denen er den leblosen Körpern der Tiere durch eine Dramaturgie neues Leben und Dynamik verlieh. Durch die konsequente Erprobung neuer Techniken und regelmäßige Besuche im Zoo, wo er die lebenden Tiere studierte, erreichte Ward einen vorher nie gekannten Naturalismus.
Aus seiner ersten Werkstatt in London ging einer der erfolgreichsten Präparationsbetriebe für Jagdtrophäen hervor. Zu Wards großem Erfolg trug auch die allgemeine Diskussion über die Aufgaben der Museen bei, die von einer rein wissenschaftlichen Präsentation zu spektakulären Inszenierungen übergingen und so die Form des Dioramas weiterentwickelten. Für die Sammlung des Herzogs von Orléans schuf Ward gegen Ende des 19. Jahrhunderts Dioramen, die seit 1926 zum Muséum national d’histoire naturelle in Paris gehören.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Rowland Ward, Buller-Albatros, 1904
Zu den beeindruckendsten Beispielen der Dioramagestaltung gehört die Akeley Hall of African Mammals im Naturkundemuseum von New York, wo eine Abfolge von Dioramen mit lebensechten Gazellen, Zebras, Hyänen, Elefanten und Affen aufgebaut ist. Der Tierpräparator Carl Akeley hatte die Tiere während seiner Afrikareise 1920/21 studiert, fotografiert und sogar gefilmt, was ihm als Grundlage für die bemerkenswert realistischen Darstellungen und natürlichen Bewegungen seiner Tierpräparate diente. Die Schirn zeigt seine Filmaufnahmen sowie die Büste eines Gorillas, die er für das Naturkundemuseum schuf. Durch seine Arbeit war Akeley aber auch zum Tierschützer geworden, der sich für die Erhaltung der Lebensräume der Gorillas einsetzte.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Carl Akeley, The Old Man of Mikeno
Ein Diorama sagt oft mehr über den Erzähler aus als über die präsentierte Geschichte. Eine Variante des Habitatdioramas war im 19. Jahrhundert die anthropomorphe Tierpräparation, auf die sich der Tierpräparator Walter Potter spezialisiert hatte. Er zeigte ausgestopfte Tiere in menschlichen Posen und arrangierte sie in sozialen Gruppen, wie es in der Natur unmöglich wäre. Die Ausstellung in der Schirn zeigt seine Komposition Happy Family, wo sich Vögel, Raubvögel und Säugetiere einträchtig um einen Baum versammelt haben, ohne ihren natürlichen Jagd- und Fluchtinstinkten nachzugehen.


Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Walter Potter, Happy Family
Der Mensch betritt gegen 1870 die Bühne des Dioramas, woraus sich das anthropologische Diorama entwickelt. Durch die Weltausstellungen in Paris verbreitet sich diese Art des Dioramas in Europa rasant. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Hochzeit des Kolonialismus, das anthropologische Diorama wurde als propagandistisches Instrument mißbraucht, um die angebliche Überlegenheit der Weißen Rasse zu demonstrieren und ihr hegemoniales Machtstreben zu legitimieren. Aus heutiger Sicht sind die anthropologischen Dioramen der Kolonialzeit, in denen „Wilde“ zur Schau gestellt wurden, trauriges Zeugnis der Schuld, die die westliche Zivilisation im Umgang mit anderen Kulturen auf sich geladen hat.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, G-M Salgé, Das Gold des Regenwaldes, vor 1919
Die Schirn zeigt mit Marcel Duchamps posthumen Vermächtnis das Diorama der Moderne.
Die Schau in der Schirn ist nicht nur eine Präsentation der Kulturgeschichte des Sehens, sondern auch eine Ausstellung über das Ausstellen. Aus der Inszenierung einer Botschaft, um den Blick des Betrachters zu lenken, entwickelte sich das Berufsbild des Kurators im 21. Jahrhundert. Einer der ersten, der die Wirkungsmacht der kuratorischen Arbeit erkannt hatte, war Marcel Duchamp. Seine Inszenierungen der großen Surrealismus Ausstellungen 1938 und 1942 sind noch heute legendär und exemplarisch für modernes Storytelling in der Kunst. Wie bereits bei der Erfindung des Ready-mades hat Duchamp früher als andere begriffen, wie das menschliche Sehen durch das Diorama manipuliert werden kann.
In den letzten 20 Jahren seines Lebens arbeitete er im Geheimen an einem Werk, das das Funktionsprinzip des Dioramas aufgreift und dazu bestimmt war, erst posthum gezeigt zu werden, sozusagen als sein künstlerisches Testament. Für Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage verfaßte er eine Anleitung für die Nachwelt, wie das Werk gebaut und präsentiert werden soll. Zunächst wird das Auge des Betrachters durch ein Loch in einer Mauer auf einen verdunkelten Bereich eines Dioramas gelenkt und fällt dann auf den entkleideten Körper einer Frau in einer Landschaft. Das Philadelphia Museum of Art gab 1969, ein Jahr nach Duchamps Tod, diskret die Realisierung seines Testaments in Auftrag und präsentierte Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage der Öffentlichkeit ohne Vernissage.
Die erotisch aufgeladene Atmosphäre des Werks faszinierte den französischen Bildhauer und Objektkünstler Richard Baquié (1952-1996) so sehr, daß er beschloss, Duchamps Bauanleitung eine weitere Version folgen zu lassen. Bei der Umsetzung sorgte er für die exakt gleiche voyeuristische Blickfolge, machte den hinter der Öffnung liegenden Aufbau des Dioramas aber von allen Seiten einsehbar, so daß die Illusion als Kulisse entlarvt und der Voyeurismus des Betrachters ad absurdum geführt wird. Die Dekonstruktion der Illusion entsprach dem Credo der Nachkriegskunst, um überlieferte festgefahrene Sehweisen zu hinterfragen und aufzubrechen.


Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Marcel Duchamp / Richard Baquié, Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage
Die überwältigende Magie der Täuschung ist der Schlüssel für die Kulturgeschichte des Sehens.
Dabei war für zahlreiche Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts das Diorama weiterhin eine Quelle der Inspiration, jedoch unter einem veränderten Blickwinkel, nicht mehr die perfekte Illusion, sondern die Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit stand jetzt im Vordergrund ihrer Arbeiten. Künstler wie Robert Gober und Hiroshi Sugimoto waren von der ambivalenten Ausstrahlung der Dioramen im Naturkundemuseum von New York fasziniert, sie fotografierten die Tiere in ihren künstlichen Habitaträumen ohne den Rahmen, der den Übergang zwischen real und imaginär bzw. zwischen tot und lebendig markiert. Durch die Illusion der Illusion holten sie die Tiere zurück ins Leben und versetzten sie in eine scheinbar unberührte Natur.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Hiroshi Sugimoto, Gemsbok, 1994
Richard Barnes untersucht in seinen Fotografien die Kulissenhaftigkeit des Dioramas, das man wie eine künstliche Bühne des Lebens betreten und wieder verlassen kann. Auch er dekonstruiert die Illusion, indem er den Aufbauprozeß dokumentiert und noch halbverpackte Präparate zeigt, zusammen mit Museumsmitarbeitern, die das Diorama herrichten oder darin ihren Mittagsschlaf abhalten. Was ist real und was ist imaginär? Die Schirn zeigt auch das eigens für die Ausstellung konzipierte Werk Paris Streetscape von Mark Dion, wo er in einem großformatigen Schaukasten einen Ausschnitt der Pariser Stadtlandschaft präsentiert. Hier wird die Natur durch Zivilisationsmüll, Plastikabfälle und Schrott völlig überlagert, die Künstlichkeit zur Realität. Das klassische ökologische Habitatdiorama wird umgedeutet zu einem vom Menschen umgebauten Lebensraum, in dem die Tiere durch Anpassung zu überleben versuchen. Durch sein Konsumverhalten und die Zerstörung der Umwelt schafft der Mensch die Grenze zwischen natürlich und künstlich ab.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Richard Barnes, Man with Buffalo, 2007

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Richard Barnes, Single Ungulate and Man Amid Blue Crosses, 2008
Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Mark Dion, Paris Streetscape, 2017
Der kanadische Künstler Kent Monkman, der dem Stamm der Cree angehört, setzt sich in seiner Arbeit Bête Noire mit der Lebensrealität der indigenen Völker Nordamerikas auseinander. Faziniert von den lebensgroßen Dioramen im Manitoba Museum, wo Angehörige der indigenen Stämme in idyllischen Szenen dargestellt werden, sah er gleichzeitig den Widerspruch zur Realität, wo Armut und Rassismus zu ihrem Lebensalltag gehören. Vor einem amerikanischen Landschaftspanorama thront Miss Chief Eagle Testickle auf einem Motorrad, eine sexuell ambivalene Figur, die die Unterdrückung der in den indigenen Kulturen traditionelle Gendervarianz durch die Siedler zum Ausdruck bringt.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Kent Monkman, Bête Noire, 2014
Heute sind Dioramen der zunehmenden Konkurrenz durch neue Bildungsangebote, die mit interaktiven Benutzeroberflächen attraktiver sind, ausgesetzt. Dennoch bleibt das Illusionsmedium des Dioramas faszinierend, es weckt Erinnerungen an die versunkene Welt der Wunder, als die „überwältigende Magie der Täuschung“, wie Baudelaire es formulierte, und die komplette Kenntnis der Welt noch in einem einzigen Raum eingefangen werden konnten. Der Film Nachts im Museum bringt diesen Zauber, die Welt mit staunenden Kinderaugen zu betrachten, auf den Punkt, in der in der Schirn gezeigten Filmsequenz ist der entscheidende Moment festgehalten: als im American Museum of Natural History die Glasscheibe zerbricht und die dahinter ausgestellten Wesen zum Leben erwachen. Die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit wird aufgehoben, der Betrachter taucht ein in eine virtuelle Welt.

Schirn Kunsthalle Frankfurt, Diorama – Erfindung einer Illusion, Isa Genzken, Empire Vampire III
Zugleich liegt die Faszination am Diorama auch an der Urangst des Menschen vor dem Unbelebten, das in tierischer oder menschlicher Gestalt durch Magie zum Leben erweckt wird. Das Ende des 18. Jahrhundert entstandene Literaturgenre des Schauerromans, wo Automaten, Untote und hybride Mensch-Maschinen zum ersten Mal auftauchen, ist durch den Hyperrealismus der Taxidermie weiterentwickelt worden. Im 21. Jahrhundert ist daraus eine Unterhaltungsindustrie mit Milliardenumsäzen geworden, die letzlich nur nach der perfekten Illusion strebt, nach den optischen Tricks, die die Netzhaut des menschlichen Auges nicht mehr von der Realität unterscheiden kann. Doch warum sucht der Mensch eine konstruierte Wirklichkeit? Weil dem menschlichen Geist die Welt, in der wir leben, nicht genügt und der Realraum immer mehr schrumpft in dem Maße, wie wir die allerletzten Winkel der Erde vermessen, dokumentieren, ausbeuten und zerstören. Deshalb ist der Mensch gezwungen, Demiurg zu spielen und sich neue Parallelwelten zu erschaffen, die die menschliche Wahrnehmung erweitern und die trennende Glasscheibe zwischen ihm und dem Diorama zerbrechen. Ein Leben in der Matrix.
06.10.17 – 21.01.18 Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main